Sunday, August 29, 2010

Nachtblindheit


Die lange asphaltierte Straße zog sich träge in die Nacht hinein wie eine breite schwarze, weiß schraffierte Zunge. Es war kalt. Die Sonne war, nachdem sie die Erde in rotes Licht getaucht hatte, längst hinter den fernen Hügeln verschwunden und ließ eine zitternde Wolke von Gespenstern und Klängen zurück, die als raunende Schatten zwischen dem Moos auftauchten und wieder entwichen.
Ich, ein Ergründer des Wesentlichen ohne Phiole, lief am Rande des Weges, mein Gepäck auf den Schultern. Das künstliche Licht am Horizont trennte jenen Landstrich von der Dunkelheit, bis es zu ganz kleinen Punkten wurde, die sich in der Ferne verloren. Es war fast, als bestünde die Welt nur aus winzigen honigfarbenen Lichtkörnchen, die mit dem Dunkel der Nacht verschmolzen wie das weiche Wachs einer Kerze.
Wie ich so meines Weges ging, kam ich an eine Biegung und sah dort oben, wo der Asphalt endete und eine Wiese begann, ein Holzhaus mit schräg abfallendem Schieferdach. Ein Schornstein malte hellgraue Linien in den Himmel und aus erleuchteten Fenstern, die leichte Gardinen aus buntem Stoff zierten, wurden den Umherziehenden zwinkernde Lichtblitze zugeworfen. Ich hielt an und setzte mich auf die wenigen Gepäckstücke, die mich auf meiner Reise begleiteten. Ich beobachtete jenes Haus und das Leben, das mir durch den magischen Schein der Fenster zu sehen vergönnt war. Männer und Frauen in Feststimmung lachten, scherzten miteinander und beschenkten sich, doch wirklich niemand wagte es, einen Blick nach draußen zu werfen – aus Angst, dass die große Stille der Finsternis ihre Lippen streifen und das erstarrte Lächeln darauf zum Erlöschen bringen könnte.
Das ferne Glockenläuten eines Kirchturmes drang an mein Ohr und es begann zu schneien, während ich draußen blieb, eingehüllt in den Mantel aus Frost und Traurigkeit, der meine Gedanken umgab, und die Traurigkeit sich wie der Geruch sehr alter Gegenstände in mir ausbreitete.
Gierig nach Leben, betrachtete ich weiter jenes weit entfernte Universum, aus dem ich ausgeschlossen war, und die glücklichen Opfer dieser verzauberten Welt. Ich hätte den Kiesweg hinaufgehen mögen, der zu dieser Welt führte, um an jene Holztür zu klopfen, hinter der eine schöne Frau ihr langes Haar kämmte, und um Einlass zu bitten, aber so viele scharfe Klingen hatten an dieser Schwelle bereits meine Fäuste durchbohrt. Zu viele Male habe ich, blutend und geschlagen, hinter einer Tür ohne Riegel um jene Schöne geweint, die ich nie würde küssen können. Wenn deine Träume sich, gleich dem Wind, nicht wegschließen lassen, nicht einmal in einen goldenen Käfig, bist du anders als sie und sie werden dich draußen lassen, bei den Krähen und dem Duft von Erika.
Ich hob meine Augen und Hände gen Himmel und schrie mit der Kraft der letzten Tränen: „Habt Mitleid mit einem Mann, der allein in der Kälte der Nacht steht“, aber der Schnee fuhr fort, weiße Pirouetten in der eisigen Luft zu bilden, und auch der Asphalt schwieg.
Wir glauben, das, was geschieht, beeinflussen, den Ereignissen befehlen zu können, doch sind wir nichts als Marionetten, die zur Melodie des Schicksals tanzen, während das Leben dahinfließt wie Wasser in einer Dachrinne an einem Regentag.
Ich blieb sitzen und eine weiße Schneedecke legte sich auf mein Haupt, so dass am Rand der Straße nur ein Eisklotz zurückblieb, der einem Menschen ähnlich sah. Alles hat seine Bedeutung im unbekannten Räderwerk dieser dunklen Nacht, in der das Gold zu Eisen wird und Sklaven auf Fuchsjagd gehen, als wären sie Könige.

Eine Elster, die meinen Ruf vernommen hatte, ließ sich auf einem Zweig nieder und eine Schneeflocke fiel herab.

(Sergio Caldarella, Cade ancora neve, Oros Edizioni, Siracusa 1996, s. 15)