Thursday, February 1, 2018

Die phantastische Welt der Bücher

Was in der Walpurgisnacht mit den Büchern geschieht

von S
ERGIO CALDARELLA

Werte Freunde, heute will ich Euch von einer wundersamen Begebenheit berichten. Diese Nacht bin ich auf dem Divan im Arbeitszimmer eingenickt, just über der letzten Seite der Geschichte der Juden des Josef ben Gorion; aufgrund seiner Thematik ein wirklich faszinierendes Buch – erst von Zena Ayhud vom inzwischen verschollenen arabischen Originaltext ins Äthiopische übersetzt und danach ins Deutsche. Ich muß wohl drei bis vier Stunden geschlafen haben, als ich durch ein Geraschel geweckt wurde: Mit erst halbgeöffneten Augen nahm ich wahr, wie den Büchern des ersten Stapels vor dem Regal gegenüber des Divans kleine Hände und Füße sprossten und sie anfingen, sich zu bewegen. Einige unterhielten sich miteinander während andere versuchten, auf ein höher- oder tiefergelegenes Fach zu gelangen. Es war ein wildes Durcheinander von Papieren und Bänden: Die im Hochglanzeinband wetteiferten mit den Manuskripten, die gebundenen Bücher stritten mit den broschierten, selbst die Landkarten fingen an, aus ihren Hüllen zu tanzen und alles war wie von nie gekanntem Leben erfüllt. Auch wenn mich tiefe Verwunderung gepackt hatte, gab ich doch vor, weiterzuschlafen, um beobachten zu können, was noch geschehen würde. Glaubt mir, wäre ich selbst ein Buch, so wäre ich wohl eine Piratengeschichte, die sich den Bücherrücken an einem der Pfosten der Nussbaumbibliothek schabte, so als ob sie sich auf ihre Weise den ‚Rücken' kratzen würde.
Als ich die Ohren spitzte, vernahm ich, dass einige Bücher in der linken Bibliothek heftig miteinander diskutierten. „Pah, Bücher die sprechen!“ dachte ich. Es waren die antiken Bände, die Werke Platons und die von Aristoteles, von Theophrastus unterstützt, die nahe beieinander saßen und ruhig miteinander diskutierten, und, wenn mich nicht alles täuscht, war Gegenstand der Debatte genau jener eines alten Disputs aus dem Siebten Brief, demnach man das (einmal) Geschriebene nicht mehr vertreten kann, da der Philosoph, (und dem ist wirklich so, eine sehr ernste Angelegenheit) niemals über eine ernsthafte Sache schreiben würde. Nun sagt mir doch, ob ausgerechnet die Bücher selbst über das Thema des ungeschriebenen Wissens diskutieren sollten?! An Platons Seite drängten sich die Bände einiger Neoplatonisten und einiger Neopythagoristen, zusammen mit den Enneaden des Meisters Plotin und im Dunkel Heraklit, der, wie erhellt, schwieg. Die Zeitgenossen der Renaissance und des Humanismus waren auch größtenteils auf Platons Seite, und Ficinus ließ nicht davon ab Pico della Mirandola zu provozieren, indem er einige meiner bunten Büroklammern (auf die ich so eifersüchtig bin) nach ihm warf, während die Kirchengelehrten gleichmäßig verteilt waren: Hier war Augustinus und dort Thomas, ein jeder der Kirchenväter ein wenig hie und ein wenig da. Porphyrius hätte meiner Ansicht nach auch dasein müssen, aber ich konnte ihn auf keiner Seite erkennen; wer weiß, vielleicht hatte er sich ja unter dem Baum versteckt? Unterdessen gaben es sich der Martianus Capella, umfangreich und gut gebunden, und der Pausanias, der seitlich numeriert war, gehörig, während der arme Anicius Manlius Severinus Boëthius, viergeteilt, sie zu trennen versuchte, eigens den Trost der Philosophie beschwörend. Erst vor den Metamorphosen des Ovid beruhigten sie sich schließlich, mit Wut auf Apuleio, der sich geduckt mit der schönen Sammlung von Saffo auf- und davonmachte.
Dagegen war das Regal der modernen Philosophie ein einziges Stimmengewirr derer, die man so gut wie gar nicht begreift; ein Großteil der Bände ereiferte sich und mir schien, daß sie sich nicht einmal untereinander verstehen konnten. Sein und Zeit von Heidegger zum Beispiel blieb nicht in einer Ecke, sondern grübelte zusammen mit einigen broschierten Bändchen, die kaum in schöner Reihe hintereinander vom letzten Bord unten des Regals der Sekundärliteratur ausgewandert waren: Unter ihnen glaubte ich undeutlich irgendetwas von Derrida zu erkennen, ein von Laterza herausgegebener Vattimo und ein Adelphi in gelbem Einband, jener von Cacciari, wie mir schien. Unter dieser Gruppe der Modernen waren die Logiker die Einzigen, die ruhig argumentierten: Wittgenstein, Carnap, Russell, Gödel, Whitehead, und aus der Mitte herausstechend, der Corpus von Nietzsche. Der einzige Band, der vorwurfsvoll schwieg, war der Tractatus, der die anderen mit einem kleinen Lächeln betrachtete; wobei Nietzsche schizophren erschien, denn wenn er auch einerseits glänzend den Betrachtungen entsprach, die die Logiker über ihn anstellten, (zu der Gruppe war noch die Welt (als Wille und Vorstellung) Schopenhauers dazugekommen) musste er auf der anderen Seite hin und wieder schreien, um den Blödsinn, den der Willen zur Macht oder der Nietzsche Heideggers in die Gruppe einzubringen versuchten, zum Schweigen zu bringen. Diese letzten beiden lästigen Bände wurden glücklicherweise von der Gruppe der gewichtigen Arbeiten von Adorno und dem eisernen Widerstand der Ragione Errabonda von Giorgio Colli ferngehalten, die erstens den Zugang zum Willen zur Macht verwehrten, weil dieser schlecht gemacht und Nietzsche wohl nur untergeschoben war, und zweitens zum Nietzsche Heideggers, weil Heidegger hier einen Gedanken Nietzsches anpries, der in Wirklichkeit aber nur seiner eigenen Sichtweise entsprang. Wenn die beiden es doch geschafft hätten, sich in die Gruppe einzuschleichen, wäre es wohl zu einer unbesonnenen Reaktion des Werkes Nietzsches gekommen, glaube ich. Unterdessen lief ein durch einen beigefarbenem Umschlag geschützter Poesieband von Hölderlin umher, zwanghaft wiederholt „Je ne suis pas un jacobine...“ vor sich herplappernd, während eine Kopie des Le Rouge et le Noir ihn hinten verbesserte und soufflierte: „Je ne suis pas un ange...“. Mit Sicherheit habe ich nicht immer verstanden, was genau sie sagten und warum sie es sagten.
Unter den Gewalttätigsten des Bereiches der modernen Philosophie waren ein Band von Karl Löwith in rotem Einband (Mein Leben in Deutschland), Heidegger und der Nationalsozialismus von Victor Farias und ein Text, noch immer über Heidegger, verfasst von Dionis Mascolo (Niedertracht und Tiefgründigkeit); und kaum dass diese drei einen Band von Heidegger oder einem seiner Epigonen vorbeigehen sahen, schlugen sie wie wildgeworden auf ihn ein. Vielleicht deshalb hatten sich die eingefleischtesten Anhänger des Freiburgers in eine Ecke des Büros verkrochen, um von dort aus starr und unbeugsam Sein und Zeit zu verteidigen. Ein übermütiger Band von Ernst Jünger war es, der die Heideggianer in der Kunst der Verteidigung schulte. Welch lauter und chaotischer Bereich, jener der modernen Philosophen! Besser ging es bei den Antiken zu, die, welch ein Zufall, die Einzigen waren, denen die Poeten einen Besuch abstatten würden. Mich betrübten Pindaro und Boiardo, die mit Juvenal und Petronius Karten spielten, während Solon und Diogenes, der Zyniker mit seinem dicken Knüppel, darüber wachten, dass keiner falsch spielte; ich sah die Ruchlosen, schwarz von Tinte, mit den Buchstaben spielen, weshalb hie und da in manchen Seiten einige fehlten. Ganoven, das!
Die übrigen Poeten waren in zwei Gruppen unterteilt: Eine hatte aus meinen Lesezeichen und den Landkarten ein kleines Amphitheater errichtet, das sie zum Deklarieren von Versen in passender Atmosphäre nutzten, die andere Gruppe, eher von der beschaulichen Art, hatte sich der Glastür die zum Garten hinausgeht zugewandt und war dort stehengeblieben, um die Hecke zu betrachten; vielleicht sollte man noch erwähnen, dass die Werke von Leopardi die magere Kolonne anführten.
In einem gewissen Moment nahm ich wahr, dass sich einige Bände des Regals der zeitgenössischen Literatur zusammen mit den technischen Handbüchern darüber beklagten, dass sie in dieser Bibliothek zuwenig zur Geltung kämen; wo Sachliteratur und Klassiker die unbestrittene Mehrheit darstellten, würde ihnen, den Armen, zusammen mit den Handbüchern in dem ihnen zugewiesenen kleinen Seitenteil der Bibliothek fast keine Aufmerksamkeit zuteil. Wer die Anderen am meisten aufwiegelte, war Barnum, ein Bändchen mit Artikeln von Baricco, und ich hörte es sagen: „Hin und wieder diskutiere ich mit den Kulturseiten der Zeitungen, und sie berichten von Wunderwerken, von denen wir noch überhaupt nichts gehört haben. Wusstet ihr, wieviele Sänger und Schauspieler Bücher geschrieben haben, aus denen wir eine Menge über die Welt des Schauspiels, über die Mode lernen können? So hat vor einigen Jahren ein sogenannter Tommaso Labranca das Buch Das Leben nach Orietta Berti. Die Geheimnisse, Ratschläge und Rezepte zum Glücklichsein herausgegeben, und, hat jemand dieses Buch überhaupt schon einmal gesehen? Davon bringt er überhaupt nichts mit! Vor zwei Tagen hat mir die Kulturseite der Repubblica von Dacia Maraini und Alberto Bevilacqua, auf die alle verrückt sind, erzählt, und warum gibt es hier noch keinen Band von diesen Gestalten?“ An diesem Punkt war ich schon fast im Begriff aufzustehen, um mich auf ihn zu stürzen und den Frechling zu packen und zwischen den Abfall zu werfen, wo er zu landen verdient hätte, als hinter seinem Rücken zwei teure Bände, die Palinfraschi von Roberto Ridolfi und die Schriften des Amedeo Morandotti das unverschämte Büchlein sofort rügten: „Was schwätzt du eigentlich daher, du, der du diese Maraini und diesen Bevilacqua selbst gar nicht kennst, sondern nur das, was die Feuilletons dir über sie erzählt haben? Weißt du denn nicht, dass man, um auf diesen Seiten rezensiert zu werden, bezahlen muss? – sagte der Ridolfi – Bevor ich gekauft wurde, lag ich durch ein Versehen des Buchhändlers auf dem gleichen Regal, wo Hunderte von diesen Marainis und Bevilacquas auslagen, damit sie umfangreicher wirkten gedruckt in Schriftgrad 13. Ich erzähle lieber nicht, was das für ein Tamtam war! Und all diese banalen Sätze, und der Aufbau, der Stil, all das, was man nur vorgab zu haben, dabei war davon keine Spur zu finden! Lass' von solchen Büchern ab und sei froh, dass du hier davon nichts findest; hier weißt du wenigstens, dass man uns gut behandelt und unsere Mitbewohner sorgsam auswählt. Denk' mal, wenn hier jedermann einfach hereinkommen könnte, dann liefen fragwürdige Leute aller Art herum; es reicht mir schon, mich mit diesen wildgewordenden Theaterleuten befassen zu müssen, um davon Kopfschmerzen zu bekommen – habe ich nicht gerade eben diesen Typen, wie heißt er noch gleich, Mattia Pascal, gesehen? Nein? Sollte er nach mir fragen, sagt ihm, daß ich in ein anderes Regal umgezogen bin...“. Der Schlingel von Barnum war nicht zu überzeugen, und um Ridolfi zu erschrecken, erzählte er ihm, daß sich auch schon Othello genähert hatte und irgendetwas bezüglich Desdemona gefragt habe, weshalb sich Ridolfi aus dem Staube machte; und Baricco rief, nachdem er sich versichert hatte, daß er es nicht mehr hören konnte, triumphierend aus: „Sieh' mal an, ihm zufolge liest man Bücher nur um daraus zu lernen, aber will sich die Mehrheit nicht doch eigentlich nur unterhalten?!“ „Sicher“, merkte die ferne Stimme des Leoparden an, der bis zu diesem Augenblick im Schatten verblieben war, „aber nun lass' diese Bücher doch besser in eine andere Bibliothek Eingang finden“ und Morandotti, der noch überhaupt nichts gesagt hatte, beschränkte sich darauf, mit unverhohlenem Bedauern für den kleinen Barnum, beizupflichten.

An diesem Punkt schlug Leutnant Drogo, wie gewohnt immer auf der Hut, Alarm und enthüllte, daß ich wach war, und löste so einen Riesentumult aus. Ich hatte die Augen noch nicht wieder völlig geöffnet und kaum eben die Lampe neben dem Divan eingeschaltet um noch des letzten kleinen Raschelns gewahr zu werden, das irgendeine Seite beim Zurückkehren auf ihren Platz und einige Einbände, die sich wieder schlossen, machten. Der Zauber war gebrochen, aber nur deshalb wollte ich Giovanni Drogo nicht grollen, er war schließlich nur seiner Pflicht nachgekommen.

Ich erinnere mich, schon so manches Mal gelesen zu haben, daß in einer Nacht des Jahres die Gegenstände zum Leben erwachen: Jetzt weiß ich, in welcher. Ich weiß schon, wann ich nächstes Jahr dabeisein werde...