Was in
der Walpurgisnacht mit den Büchern geschieht
von SERGIO CALDARELLA
Werte
Freunde, heute will ich Euch von einer wundersamen Begebenheit berichten. Diese
Nacht bin ich auf dem Divan im Arbeitszimmer eingenickt, just über der letzten
Seite der Geschichte der Juden des
Josef ben Gorion; aufgrund seiner Thematik ein wirklich faszinierendes Buch –
erst von Zena Ayhud vom inzwischen verschollenen arabischen Originaltext ins
Äthiopische übersetzt und danach ins Deutsche. Ich muß wohl drei bis vier
Stunden geschlafen haben, als ich durch ein Geraschel geweckt wurde: Mit erst
halbgeöffneten Augen nahm ich wahr, wie den Büchern des ersten Stapels vor dem
Regal gegenüber des Divans kleine Hände und Füße sprossten und sie anfingen,
sich zu bewegen. Einige unterhielten sich miteinander während andere
versuchten, auf ein höher- oder tiefergelegenes Fach zu gelangen. Es war ein
wildes Durcheinander von Papieren und Bänden: Die im Hochglanzeinband
wetteiferten mit den Manuskripten, die gebundenen Bücher stritten mit den
broschierten, selbst die Landkarten fingen an, aus ihren Hüllen zu tanzen und
alles war wie von nie gekanntem Leben erfüllt. Auch wenn mich tiefe
Verwunderung gepackt hatte, gab ich doch vor, weiterzuschlafen, um beobachten
zu können, was noch geschehen würde. Glaubt mir, wäre ich selbst ein Buch, so
wäre ich wohl eine Piratengeschichte, die sich den Bücherrücken an einem der
Pfosten der Nussbaumbibliothek schabte, so als ob sie sich auf ihre Weise den
‚Rücken' kratzen würde.
Als
ich die Ohren spitzte, vernahm ich, dass einige Bücher in der linken Bibliothek
heftig miteinander diskutierten. „Pah, Bücher die sprechen!“ dachte ich. Es
waren die antiken Bände, die Werke Platons und die von Aristoteles, von
Theophrastus unterstützt, die nahe beieinander saßen und ruhig miteinander
diskutierten, und, wenn mich nicht alles täuscht, war Gegenstand der Debatte
genau jener eines alten Disputs aus dem Siebten Brief, demnach man das
(einmal) Geschriebene nicht mehr vertreten kann, da der Philosoph, (und dem ist
wirklich so, eine sehr ernste Angelegenheit) niemals über eine ernsthafte Sache
schreiben würde. Nun sagt mir doch, ob ausgerechnet die Bücher selbst
über das Thema des ungeschriebenen Wissens diskutieren sollten?! An Platons
Seite drängten sich die Bände einiger Neoplatonisten und einiger
Neopythagoristen, zusammen mit den Enneaden des Meisters Plotin und im
Dunkel Heraklit, der, wie erhellt, schwieg. Die Zeitgenossen der
Renaissance und des Humanismus waren auch größtenteils auf Platons Seite, und
Ficinus ließ nicht davon ab Pico della Mirandola zu provozieren, indem er
einige meiner bunten Büroklammern (auf die ich so eifersüchtig bin) nach ihm
warf, während die Kirchengelehrten gleichmäßig verteilt waren: Hier war
Augustinus und dort Thomas, ein jeder der Kirchenväter ein wenig hie und ein
wenig da. Porphyrius hätte meiner Ansicht nach auch dasein müssen, aber ich
konnte ihn auf keiner Seite erkennen; wer weiß, vielleicht hatte er sich ja
unter dem Baum versteckt? Unterdessen gaben es sich der Martianus Capella,
umfangreich und gut gebunden, und der Pausanias, der seitlich numeriert war,
gehörig, während der arme Anicius Manlius Severinus Boëthius, viergeteilt, sie
zu trennen versuchte, eigens den Trost der Philosophie beschwörend. Erst
vor den Metamorphosen des Ovid beruhigten sie sich schließlich, mit Wut auf
Apuleio, der sich geduckt mit der schönen Sammlung von Saffo auf- und
davonmachte.
Dagegen
war das Regal der modernen Philosophie ein einziges Stimmengewirr derer, die
man so gut wie gar nicht begreift; ein Großteil der Bände ereiferte sich und
mir schien, daß sie sich nicht einmal untereinander verstehen konnten. Sein
und Zeit von Heidegger zum Beispiel blieb nicht in einer Ecke, sondern
grübelte zusammen mit einigen broschierten Bändchen, die kaum in schöner Reihe
hintereinander vom letzten Bord unten des Regals der Sekundärliteratur
ausgewandert waren: Unter ihnen glaubte ich undeutlich irgendetwas von Derrida
zu erkennen, ein von Laterza herausgegebener Vattimo und ein Adelphi
in gelbem Einband, jener von Cacciari, wie mir schien. Unter
dieser Gruppe der Modernen waren die Logiker die Einzigen, die ruhig
argumentierten: Wittgenstein, Carnap, Russell, Gödel, Whitehead, und aus der
Mitte herausstechend, der Corpus von
Nietzsche. Der einzige Band, der vorwurfsvoll schwieg, war der Tractatus,
der die anderen mit einem kleinen Lächeln betrachtete; wobei Nietzsche
schizophren erschien, denn wenn er auch einerseits glänzend den Betrachtungen
entsprach, die die Logiker über ihn anstellten, (zu der Gruppe war noch die Welt
(als Wille und Vorstellung) Schopenhauers dazugekommen) musste er auf
der anderen Seite hin und wieder schreien, um den Blödsinn, den der Willen
zur Macht oder der Nietzsche Heideggers in die Gruppe einzubringen
versuchten, zum Schweigen zu bringen. Diese letzten beiden lästigen Bände
wurden glücklicherweise von der Gruppe der gewichtigen Arbeiten von
Adorno und dem eisernen Widerstand der Ragione Errabonda von Giorgio
Colli ferngehalten, die erstens den Zugang zum Willen zur Macht verwehrten,
weil dieser schlecht gemacht und Nietzsche wohl nur untergeschoben war, und
zweitens zum Nietzsche Heideggers, weil Heidegger hier einen Gedanken
Nietzsches anpries, der in Wirklichkeit aber nur seiner eigenen Sichtweise
entsprang. Wenn die beiden es doch geschafft hätten, sich in die Gruppe
einzuschleichen, wäre es wohl zu einer unbesonnenen Reaktion des Werkes
Nietzsches gekommen, glaube ich. Unterdessen lief ein durch einen beigefarbenem
Umschlag geschützter Poesieband von Hölderlin umher, zwanghaft wiederholt „Je
ne suis pas un jacobine...“ vor sich herplappernd, während eine Kopie des Le
Rouge et le Noir ihn hinten verbesserte und soufflierte: „Je ne suis pas un
ange...“. Mit Sicherheit habe ich nicht immer verstanden, was genau sie sagten
und warum sie es sagten.
Unter
den Gewalttätigsten des Bereiches der modernen Philosophie waren ein Band von
Karl Löwith in rotem Einband (Mein Leben in Deutschland), Heidegger
und der Nationalsozialismus von Victor Farias und ein Text, noch immer über
Heidegger, verfasst von Dionis Mascolo (Niedertracht und Tiefgründigkeit);
und kaum dass diese drei einen Band von Heidegger oder einem seiner Epigonen
vorbeigehen sahen, schlugen sie wie wildgeworden auf ihn ein. Vielleicht
deshalb hatten sich die eingefleischtesten Anhänger des Freiburgers in eine
Ecke des Büros verkrochen, um von dort aus starr und unbeugsam Sein und Zeit zu verteidigen. Ein
übermütiger Band von Ernst Jünger war es, der die Heideggianer in der Kunst der
Verteidigung schulte. Welch lauter und chaotischer Bereich, jener der modernen
Philosophen! Besser ging es bei den Antiken zu, die, welch ein Zufall, die
Einzigen waren, denen die Poeten einen Besuch abstatten würden. Mich betrübten
Pindaro und Boiardo, die mit Juvenal und Petronius Karten spielten, während
Solon und Diogenes, der Zyniker mit seinem dicken Knüppel, darüber wachten,
dass keiner falsch spielte; ich sah die Ruchlosen, schwarz von Tinte, mit den
Buchstaben spielen, weshalb hie und da in manchen Seiten einige fehlten.
Ganoven, das!
Die
übrigen Poeten waren in zwei Gruppen unterteilt: Eine hatte aus meinen
Lesezeichen und den Landkarten ein kleines Amphitheater errichtet, das sie zum
Deklarieren von Versen in passender Atmosphäre nutzten, die andere Gruppe, eher
von der beschaulichen Art, hatte sich der Glastür die zum Garten hinausgeht
zugewandt und war dort stehengeblieben, um die Hecke zu betrachten; vielleicht
sollte man noch erwähnen, dass die Werke von Leopardi die magere Kolonne
anführten.
In
einem gewissen Moment nahm ich wahr, dass sich einige Bände des Regals der
zeitgenössischen Literatur zusammen mit den technischen Handbüchern darüber
beklagten, dass sie in dieser Bibliothek zuwenig zur Geltung kämen; wo
Sachliteratur und Klassiker die unbestrittene Mehrheit darstellten, würde
ihnen, den Armen, zusammen mit den Handbüchern in dem ihnen zugewiesenen
kleinen Seitenteil der Bibliothek fast keine Aufmerksamkeit zuteil. Wer die
Anderen am meisten aufwiegelte, war Barnum, ein Bändchen mit Artikeln
von Baricco, und ich hörte es sagen: „Hin und wieder diskutiere ich mit den
Kulturseiten der Zeitungen, und sie berichten von Wunderwerken, von denen wir
noch überhaupt nichts gehört haben. Wusstet ihr, wieviele Sänger und
Schauspieler Bücher geschrieben haben, aus denen wir eine Menge über die Welt des
Schauspiels, über die Mode lernen können? So hat vor einigen Jahren ein sogenannter
Tommaso Labranca das Buch Das Leben nach
Orietta Berti. Die Geheimnisse,
Ratschläge und Rezepte zum Glücklichsein herausgegeben, und, hat jemand
dieses Buch überhaupt schon einmal gesehen? Davon bringt er überhaupt nichts
mit! Vor zwei Tagen hat mir die Kulturseite der Repubblica von Dacia
Maraini und Alberto Bevilacqua, auf die alle verrückt sind, erzählt, und warum
gibt es hier noch keinen Band von diesen Gestalten?“ An diesem Punkt war
ich schon fast im Begriff aufzustehen, um mich auf ihn zu stürzen und den
Frechling zu packen und zwischen den Abfall zu werfen, wo er zu landen
verdient hätte, als hinter seinem Rücken zwei teure Bände, die Palinfraschi
von Roberto Ridolfi und die Schriften des
Amedeo Morandotti das unverschämte Büchlein sofort rügten: „Was schwätzt du
eigentlich daher, du, der du diese Maraini und diesen Bevilacqua selbst gar
nicht kennst, sondern nur das, was die Feuilletons dir über sie erzählt haben? Weißt
du denn nicht, dass man, um auf diesen Seiten rezensiert zu werden, bezahlen
muss? – sagte der Ridolfi – Bevor ich gekauft wurde, lag ich durch ein Versehen
des Buchhändlers auf dem gleichen Regal, wo Hunderte von diesen Marainis und
Bevilacquas auslagen, damit sie umfangreicher wirkten gedruckt in Schriftgrad
13. Ich erzähle lieber nicht, was das für ein Tamtam war! Und all diese banalen
Sätze, und der Aufbau, der Stil, all das, was man nur vorgab zu haben, dabei
war davon keine Spur zu finden! Lass' von solchen Büchern ab und sei froh, dass
du hier davon nichts findest; hier weißt du wenigstens, dass man uns gut
behandelt und unsere Mitbewohner sorgsam auswählt. Denk' mal, wenn hier
jedermann einfach hereinkommen könnte, dann liefen fragwürdige Leute aller Art
herum; es reicht mir schon, mich mit diesen wildgewordenden Theaterleuten
befassen zu müssen, um davon Kopfschmerzen zu bekommen – habe ich nicht gerade
eben diesen Typen, wie heißt er noch gleich, Mattia Pascal, gesehen? Nein?
Sollte er nach mir fragen, sagt ihm, daß ich in ein anderes Regal umgezogen
bin...“. Der Schlingel von Barnum war nicht zu überzeugen, und um
Ridolfi zu erschrecken, erzählte er ihm, daß sich auch schon Othello genähert
hatte und irgendetwas bezüglich Desdemona gefragt habe, weshalb sich Ridolfi
aus dem Staube machte; und Baricco rief, nachdem er sich versichert hatte, daß
er es nicht mehr hören konnte, triumphierend aus: „Sieh' mal an, ihm zufolge
liest man Bücher nur um daraus zu lernen, aber will sich die Mehrheit nicht doch
eigentlich nur unterhalten?!“ „Sicher“, merkte die ferne Stimme des Leoparden
an, der bis zu diesem Augenblick im Schatten verblieben war, „aber nun lass'
diese Bücher doch besser in eine andere Bibliothek Eingang finden“ und
Morandotti, der noch überhaupt nichts gesagt hatte, beschränkte sich darauf,
mit unverhohlenem Bedauern für den kleinen Barnum, beizupflichten.
An
diesem Punkt schlug Leutnant Drogo, wie gewohnt immer auf der Hut, Alarm und
enthüllte, daß ich wach war, und löste so einen Riesentumult aus. Ich hatte die
Augen noch nicht wieder völlig geöffnet und kaum eben die Lampe neben dem Divan
eingeschaltet um noch des letzten kleinen Raschelns gewahr zu werden, das
irgendeine Seite beim Zurückkehren auf ihren Platz und einige Einbände,
die sich wieder schlossen, machten. Der Zauber war gebrochen, aber nur deshalb
wollte ich Giovanni Drogo nicht grollen, er war schließlich nur seiner Pflicht
nachgekommen.
Ich
erinnere mich, schon so manches Mal gelesen zu haben, daß in einer Nacht des
Jahres die Gegenstände zum Leben erwachen: Jetzt weiß ich, in welcher. Ich weiß
schon, wann ich nächstes Jahr dabeisein werde...